ANSICHTSSACHE
F O T O S,
Jan_Federer
T E X T,
Sven_Langkabel
P A I N T,
Fabi_Jankoschek
„Soziale Normen gelten als grundlegende Komponente der sozialen Existenz der Menschen“. Verstehe. „Soziale Normen sind Verhaltensregeln, die von fundamentaler Bedeutung für das gesamtgesellschaftliche Leben sind“. Okay. „Eine soziale Norm ist wie eine soziale Regel oder Anleitung zum Handeln, die empfohlen wird, weil sie für allgemein angemessen, passend, moralisch, zweckmäßig, richtig und wichtig gehalten wird“. Okay okay. Aber halt mal. Regeln?
„There are no rules in skateboarding!“ heißt es doch oder? „No rules, no limits- skaters gonna sk8!“. Das habe ich doch schon auf diversen bösen Totenkopf- Boardgrafiken mit blauen Flammen und zackigen Blitzen, in cooler Graffiti-Typografie auf Flexfit- Caps bedruckt oder von Bart Simpson auf die Tafel geschrieben gesehen. Ist die soziale Existenz von Menschen die Skateboardfahren demnach nicht vorhanden, oder machen die sozialen Normen hier etwa eine Ausnahme?
Es geht wohl darum: Eine soziale Norm ist kein Datum im Sinne von festgeschriebenen offiziellen Regeln oder objektiven Tatsachen, sondern vielmehr das Ergebnis dessen, was erfolgreich in einem sozialen Kontext von gesellschaftlichen Akteur*innen zusammen definiert wurde. Ein Vokabular zur Reproduktion von Abläufen. Es dreht sich um soziale Situationen, die offenbar bereits von einer großen Anzahl von Menschen fixiert und geformt sowie als Dauerhaft gestaltet sind, so dass sie nicht vom Einzelnen beliebig außer Kraft gesetzt werden können. Zwar gibt es viele Menschen die Skateboardfahren, aber gesamtgesellschaftlich betrachtet bleiben sie subkulturelle Einzelne.
Wo soziale Normen bestimmt werden, können immer auch Definitionen von abweichendem Verhalten entstehen. Was als Abweichung erscheint, kann für andere völlig ‚normal’ sein. Skater werden häufig als die Rebell*innen der Straße dargestellt. Ihre Praktiken lösen in den Städten immer wieder Konflikte aus. Irritationen entstehen, Raumaneignungsprozesse werden verhandelt. Ein und derselbe physikalische Raum wird zum Schauplatz von zwei verschiedenen sozialen Veranstaltungen. Was für die einen Bewegung und (Körper-) Kunst ist, ist für die anderen einfach nur Grenzüberschreitung. Ein klares abweichendes Verhalten. Purer Normbruch. Ruhestörung, Sachbeschädigung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Es ist einfach nicht okay. Nein, es ist absolut nicht okay. Die Straße ist gefährlich und gebührenpflichtig. Doch wer bestimmt eigentlich abweichendes Verhalten? Wer hat hier überhaupt etwas zu melden? Und wie sind diese sozialen Regeln aufgestellt – als Wegweiser oder als Galgen? Ich möchte hier nicht über formelle institutionalisierte Kontrollmechanismen wie zum Beispiel die Polizei, das Militär, die Justiz oder das Ordnungsamt schreiben. Auch nicht über außerstaatliche Instanzen wie kommerzielle Sicherheitsdienste und das Wachpersonal. Nein, ich möchte hier die Akteur*innen der informellen Kontrolle auf die Bühne bitten. Darf ich vorstellen: die Passierenden, die Nachbarschaft, die Stadtbewohner*innen, Oma Hilde, Onkel Harald, Frau Novak und Herr Darzi- Zhang, ja, die Menschen die einfach so kontrollieren wollen – die selbsternannte Polizei. Das Motiv kann natürlich höchst unterschiedlich sein, ebenso wie das Risiko. Die Spannbreite reicht von einem Interesse an der Geltung einer Norm im Hier und Jetzt bis hin zu einem allgemeinen Anliegen an der Normgebundenheit sozialen Verhaltens an sich. Häufig geht es auch einfach nur ums Prinzip. Ein couragiertes Sich-Exponieren für eine Norm, die den Sittenwächter*innen verteidigungswert erscheint. Das ist verboten! Das gehört sich nicht! Warum? Weil das so ist! Punkt.
Im Ring gegenüber stehen sich also die Skateboardfahrenden, die um die Legitimität ihrer Bewegungspraktik in den Straßen kämpfen, und die informellen freiwilligen Kontrolleur*innen, die persönlich oder durch Parteinahme Betroffener etwas dagegen haben. Ein Definitionsduell. Ich zähle hier keine Punkte und es gibt auch keinen goldenen Gürtelzugewinnen, ich möchte lediglich von beiden Seiten die Schläge unter der Gürtellinie melden. Fairplay und Respekt. Das sind gute Regeln.
Das Street-Skaten kann oft sehr mühsam sein. Anpassungsfähigkeiten, Mobilität und ein gewisses Gespür für Möglichkeiten sind gefragt. Nicht nur Ästhetik, Atmosphäre und Beschaffenheit des Ortes (glatt, rau, weich, hart, abschüssig, groß, klein etc.) sondern auch externe Gegebenheiten (Wetter, Lichtverhältnisse, Baustellen, Veranstaltungen, Öffnungszeiten, formelle und informelle Kontrollmechanismen) spielen eine Rolle bei der Suche nach einem Skatespot. Und hat man dann einmal einen guten Kanaldeckel gefunden und mühevoll aufgestellt, können sich die Bedingungen schnell wieder ändern. Es fängt an zu regnen. Nervig. Es parkt ein Auto in der Ausfahrt. Mist. Es wird langsam dunkel oder kalt. Ja gut. Es kommt jemand um die Ecke und brüllt dir ins Gesicht, dass das hier kein Spielplatz ist und ob du denn nicht viel zu alt für den ganzen Scheiß seist?! Nicht okay.
Erinnern wir uns an die Regeln des Dialogs. Wieder Regeln. Als oberste Regel heißt es doch hier: „Sachlichkeit, Wahrhaftigkeit und Respekt.“ Wenn du nach dem vierundachtzigsten Versuch endlich deinen Trick landest und du weißt, dass du ihn jede Sekunde schaffen kannst, jeder weitere Versuch könnte DER Versuch sein, du bist schon so weit gekommen, alle sind bei dir, Frust, Verzweiflung, Euphorie und Hoffnung im Wechselspiel, zwei Lokalbier sind auf DEN Nächsten gesetzt, und dann kommt eine Person und möchte dich dabei stoppen. Das ist so oder so nicht so geil, aber es kommt immer darauf an, wie die Kommunikation verläuft. Laut werden ist (wenn auch keine coole) eine Sache, aber den Skatern beispielsweise zu unterstellen sie wüssten nicht wo sie sich gerade befinden, („Das ist ein Privatgrundstück.“, „Das ist keine Spielbahn hier!“, „Ihr seid doch viel zu alt dafür!“) ist keine respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe. Die Skateboardfahrenden wissen sehr wohl, dass das was sie machen recht laut ist und auch heftige Spuren hinterlassen kann. Sie wissen auch, dass ihre ausgesuchten Orte keine Spielplätze sind und eine Halfpipe im Stadtpark steht. Und nein – Skateboardfahren geht auch noch mit Vollzeitjob, mit Kindern und über 30 Jahren. Hier gibt es keine Regeln. Wieso also nur so oft von soweit oben herab? Wieso immer so schnell die Nase rümpfen? Naja, die Klügeren geben nach. Aber wer sind die Klügeren?
“JESUS, EIN FREIZEITSCHERIFF DER SICH EINEN GOLDENEN ORDEN ERWARTET ODER EINE ÜBERMOTIVIERTE FUSSGÄNGERIN, DIE SICH EIN SCHULTERKLOPFEN DER POLIZEI ERHOFFT.”
Potenziell sind für die Skateboardfahrenden erst mal alle Menschen, die das Skateboardfahren irgendwie versuchen zu verhindern, Störfaktoren. Aber man muss sich auch manchmal in die Situation der Passierenden oder Anwohnenden hineinversetzen. Nicht alle verletzen dabei die Regeln des Dialogs, laufen rot an und schreien sofort auf dich ein. Wenn man mit der Lebenswelt der Skateboardfahrenden bisher kaum oder keinerlei Berührungen hatte, kann einen das Verhalten schnell verunsichern. Man hört vielleicht nur Krach, sieht Zerstörung und liest auf Pullovern „Skate and Destroy“. Schnell kann es zu einer Irritation der Situation kommen. Es gibt Menschen, die mit ihrem guten Recht ausgestattet, etwas dagegen und eine andere Definition der Verhältnisse
Also gilt auch für diese Ringecke: Sachlichkeit, Wahrhaftigkeit und Respekt. Beschreibt auch eure Position, schildert eure Situation,
hinterlasst keinen Müll, verursacht nicht unnötig viel Lärm und führt euch nicht auf, als würde euch die ganze Welt gehören. Ich weiß – „Skate or die“. Finde ich ja auch irgendwo gut. Und viel zu oft beißt man sich wütend die Lippe blutig, weil schon wieder ein/e Hobbyordnungshüter*in respektlos in die Session von der Seite reingrätscht. Jesus, ein Freizeitsheriff der sich einen goldenen Orden erwartet, oder eine übermotivierte Fußgängerin, die sich ein Schulterklopfen der Polizei erhofft. Es gibt einfach zu viele Idiot*innen die ihre Nase auch überall reinstecken müssen und man fragt sich: Warum?
Genauso gibt es aber auch Skateboardfahrende, die kein Verständnis zeigen wollen, egal wie höflich man sie bittet das Skateboardfahren zu unterlassen. Und auch wenn noch weitere 30 Minuten der kostbaren Sonntagsruhe ausgehandelt werden, ignorieren sie diese, hinterlassen Müll und zeigen böse Fratzen. „Punks not dead“. Auch da könnte man sich fragen: Warum?
Hilfreich wäre es, wenn sich beide Gegenparteien besser über ihre Vorstellungen von einem Miteinander im öffentlichen Raum unterhalten würden. Mehr Austausch, mehr Verständnis, Dialog. Leider sind die Karten nie fair verteilt. Macht bestimmt immer die Einflussnahme auf Konstruktionen von sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeit und somit auch auf soziale Normen. Aber das ist jetzt ein anderes Thema. So wird oft nicht verstanden, dass das Spielen mit den
Grenzen des Erlaubten nicht das primäre Ziel des Skateboardfahrens oder des subkulturellen-Seins der Skater ist, sondern lediglich eine zwangsläufig in Kauf genommene Konsequenz. Und auch wenn noch zwanzig Halfpipes aufgestellt werden, werden immer noch Skateboardfahrende auf den Straßen skaten, spuren hinterlassen und potenziell die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit stören. Wir müssen also schauen, wie wir das künftig lösen möchten.
Wie Fernando Pessoa schon sagte: „Es gibt keine Regeln – Alle Menschen sind Ausnahmen von einer Regel, die nicht existiert“. Wenn man doch immer alle Regeln befolgt, verpasst man dann nicht den ganzen Spaß?
Sven Langkabel